Hintergrund
(Datenbankeintrag: OMIM 141800, 141900, 603903)
Die Hämoglobinopathien gehören zu den häufigsten monogenen Erbkrankheiten. Weltweit sind etwa 4,5 % der Menschen Anlageträger einer Thalassämie oder Hb-Anomalie. Die Hämoglobinopathien bilden eine heterogene Gruppe von genetisch bedingten Erkrankungen, die durch eine defekte Synthese des normalen Hämoglobins (Hb) gekennzeichnet sind. Das Hb-Molekül ist ein Tetramer aus vier Globinketten, wobei jeweils zwei gleiche Ketten eingebaut werden (HBA: a2b2, HBA2: a2d2, HbF: a2g2). Abhängig davon, welches Globingen betroffen ist, unterscheidet man zwischen den a- und den b-Thalassämien.
Die häufigste molekulargenetische Ursache für eine a-Thalassämie ist die Deletion von einem oder von beiden a-Globin-Genen auf Chromosom 16p13.3 (95 % der Fälle), Punktmutationen, kleine Deletionen oder Insertionen sind wesentlich seltener.
Der Großteil der b-Thalassämien wird durch Punktmutationen im b-Globin-Gen verursacht, Deletionen sind eher selten. Abhängig von der Mutation kommt es zu einem teilweisen oder vollständigen Ausfall der b-Kettensynthese (b+- oder b°-Thalassämie).
Die Sichelzellanämie beruht auf einer homozygoten Punktmutation (HbS-Mutation) im b-Globin-Gen oder auf einer HbS-Mutation, die compound heterozygot mit einer weiteren Mutation im b-Globin-Gen vorliegt. Das resultierende Hämoglobin HbS neigt bei Sauerstoffmangel zur Auskristallisation. Dies führt zur charakteristischen Formveränderung der Erythrozyten (Sichelzellen).
Die a-Thalassämie ist verbreitet in Südostasien, Saudi-Arabien, Afrika, seltener in Europa, die b-Thalassämie ist in den Mittelmeerländern, in Teilen Asiens, im Nahen Osten und in Westafrika sehr häufig. Die Sichelzellanämie hat vor allem in West- und Ost-Afrika, Saudi-Arabien, Iran, Zentralindien und Malaysia eine hohe Prävalenz.
Klinische Bedeutung
Der vollständige Verlust der a-Globin-Gene (--/--) ist in der Regel nicht mit dem Leben vereinbar (Hb-Bart´s-Hydrops-fetalis Syndrom). Ist nur noch ein funktionelles a-Globin-Gen vorhanden (--/-a), führt dies zur HbH-Krankheit. Ein wesentliches Kennzeichen dieser Erkrankung ist, neben einer stark ausgeprägten hypochromen mikrozytären Anämie, der Nachweis von Hämoglobin H (HbH, Tetramer aus vier b-Ketten). Bei der a-Thalassämia minor, bei der zwei a-Globin-Gene deletiert sind, bestehen nur geringe hämatologische Veränderungen (Mikrozytose, Hypochromasie). Es können zwei verschiedene Genotypen vorliegen: die homozygote a+-Thalassämie (-a/-a) und die heterozygote a°-Thalassämie (--/aa). Bei Deletion eines a-Globin-Gens (-a,aa, entspricht einer heterozygoten a+-Thalassämie), sind die hämatologischen Parameter meist unauffällig.
Die b-Thalassämien werden nach dem klinischen Schweregrad als Thalassämia major und intermedia (homozygote oder compound-heterozygote Mutationen im b-Globin-Gen) bezeichnet. Bei der schwersten Form, der sogenannten Cooley-Anämie liegt eine schwere Anämie vor, die lebenslang transfusionsbedürftig ist. Die Patienten haben eine stark vergrößerte Leber und Milz, leiden an Wachstumsstörungen, schweren Schäden der inneren Organe und an Knochenfehlbildungen. Bei der heterozygoten Thalassämia minor liegen meist keine oder klinisch sehr milde Symptome vor.
Patienten mit Sichelzellanämie leiden unter einer hämolytischen Anämie und Schmerzzuständen. Häufig sind Milzinfarkte, die dazu führen können, dass aufgrund des Funktionsverlustes der Milz die Patienten erheblich infektionsgefährdet sind.
Indikationen für die genetische Untersuchung
- Bei V. a. β-Thalassämie: mikrozytäre Eisen-refraktäre Anämie, Hepatosplenomegalie, Ikterus, Gedeihstörungen, in der Hb-Elektrophorese erhöhtes HbA2, evtl. auch HbF erhöht
- Bei V. a. α-Thalassämie: Anämie, Hypochromie, Mikrozytose, in der Hb-Elektrophorese kann HbA2 erniedrigt sein
- Hämoglobinopathie in der Familie, Ausschluss von Anlageträgerschaft bei Risikopersonen mit Kinderwunsch
- Pränataldiagnostik, bei nachgewiesener Anlageträgerschaft von beiden Elternteilen
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